I SHARDANA VON ENNIO PORRINO

Die Pläne für die Oper I Shardana reichen weit zurück. Schon früh war beim Komponisten der Gedanke aufgetaucht, seiner Inselheimat in einer Oper ein Denkmal zu setzen. Lange war er unter den sardischen Dichtern auf der Suche nach einem geeigneten Sujet. Da er jedoch kein passendes Textbuch fand, begann er sich selbst ein Libretto zu schreiben, und er hatte allen Grund damit zufrieden zu sein.

«Alla mia terra di Sardegna» trägt die Partitur als Widmung. Einen Teil des Werkes konnte der Komponist schon 1956 unter dem Titel Hutalabì über den italienischen Rundfunk zu Sendung bringen, die Uraufführung des Gesamtwerkes ließ noch Jahre auf sich warten.

Nachdem weder Rom noch Mailand ein Interesse gezeigt hatten, griff endlich 1959 – im Todesjahr des Meisters – Neapel zu, und im März ging I Shardana über die ruhmreiche Bühne des Teatro San Carlo. Porrino selbst musste als Dirigent für den erkrankten Maestro Santini einspringen, seine Frau Màlgari hatte die Bühnenbilder und die Kostüme mit großem Geschick entworfen, Marcella Govoni führte Regie. Die Besetzung der Hauptpartien war: Gonnario (Ferruccio Mazzoli), Torbeno (Gastone Limarilli), Norace (Piero Guelfi), Berbera Jonia (Luisa Malagrida), Nibatta (Irene Compañez), Perdu (Antonio Galiè).

Der Erfolg war bei Publikum und Presse durchschlagend. Kein modernes Werk hatte in Neapel so viele «Vorhänge» erzielt und kann als die beste italienische Oper der Nachkriegszeit bezeichnet werden. Doch sehen wir uns das Werk näher an. Zunächst möchte man das Libretto als einen historischen Schinken bezeichnen und an eine Kopie der Aida denken, aber die Parallelen sind nur äußerlich und unerheblich: Hier wie dort verliebt sich ein Krieger in die Kriegsgefangene eines feindlichen Volkes und findet mit ihr den Tod. Die Handlung besteht aber aus keiner pseudohistorischen Rekonstruktion, sondern sie ist eigentlich zeitlos. Die Nuraghen auf der Bühne, die an die berühmten sardischen Bronzen erinnernden Kostüme haben keine tiefere Bedeutung, sie stehen nur als Symbol für die Insel und ihr Volk. Wir begegnen keinen starren Helden, keinen legendären Ereignissen. Zwar ist die Umwelt mythologisch und der Rahmen prähistorisch, aber in ihr agieren Menschen von Fleisch und Blut. Es treten keine Marionetten in der Maske sardischer Bronzen auf, sondern ein ganzes Volk zeigt sich in seinem teils glücklichen teils tragischen Schicksal. Das Volk wird in seiner typischen Schichtung gezeichnet: Bauern und Hirten, Seefahrer und Krieger. Die beiden letzten Volkstumsgruppen sind schon frühzeitig den Eroberern zum Opfer gefallen, nur die Bauern und Hirten tragen heute den Volkscharakter der Sarden. Sie bilden auch in Porrinos Oper das Zentrum, die Achse, um die sich alles dreht. Die pastoralen Szenen sind von höchster musikalischer Dichte.

Wenn nun auch die einzelnen Personen der Oper primär Menschen sind, so steht doch nicht ihr Einzelschicksal im Vordergrunde, vielmehr wird das Verhältnis von Mensch zu Mensch in Liebe und Hass aufgezeigt und die Solisten sind nur Teile des großen Ganzen. Der Chor aber ist nicht nur eine Summe von Einzelschicksalen; er hat eine doppelte Funktion: er zeigt die Volkspsyche der Sarden und er trägt im Sinne des klassischen Dramas die Funktion der Basis und des Rahmens, er umgrenzt die Welt und weitet den Raum zum Kosmischen hin. In den Chören spricht Porrino am deutlichsten seine eigene Sprache. Schrille Schreie und dissonante Klangballungen in der orgiastischen und zugleich asketischen Tanzszene stehen folkloristische Wendungen in den Nachtszenen gegenüber. Die Charakterisierungskunst und die Suggestivkraft in der Stimmung ist in den Chören kaum zu übertreffen. Allerdings ist die Chorpartie für die Sänger auch sehr schwierig und anstrengend.

Von den Einzelfiguren ist das Elternpaar am besten gelungen. Die Klage der Mutter, die sich zur Wehr setzt als man ihr die Söhne nehmen will, um sie der Schar der Krieger einzuordnen, ist ohne falsches Pathos, schlicht und ergreifend. Sie beklagt nicht nur die Einsamkeit der Nächte, in denen der Gemahl im Felde steht, sondern das mütterliche Herz ahnt bereits das Verhängnis, das sich an ihrem Erstgeborenen erfüllen wird. Noch verinnerlichter ist die Klage der Mutter Nibatta jedoch im dritten Akt nach dem Tode des Sohnes. Sie singt keine Arie voll schmerzerfüllten Pathos, wie man es, erwarten möchte. Zum dumpfen Ton der Bässe singt sie ein Wiegenlied, wie man auch in den Attìttidos, der noch heute vereinzelt gepflegten sardischen Totenklage, häufig Melodien von einer stillen sanften Trauer begegnet:

Das Wiegenlied, mein geliebter Sohn, / das Wiegenlied deiner Mutter! Hundert Sterne erleuchten den Himmel, / doch der schönste ruht in der Wiege. / Hundert Stengel lächeln auf dem Feld, / doch der blühendste gedeiht daheim. / Hundert Häfen verteidigen die Schiffe, /doch der sicherste ist das Herz der Mutter.

Das Allgemein-Menschliche wird hier durch das Auge des Sarden und durch die Seele des Sardischen geschaut, das Insulare ins Kosmopolitische erweitert, denn der Schmerz aller Mütter spricht aus der Klage, und doch ist die Klage selbst in eine typisch sardische Form gebettet.

Wie bei der Gestaltung der Nibatta ist auch die Rolle des Vaters Gonnario abweichend vom Opernhabitus geformt. Der Stammesfürst hat ebenso wie seine Gattin mehr Züge eines ländlichen Patriarchen, sein Denken und Handeln geht von der rustikalen Welt und ihren Gesetzen aus. Auch in seiner musikalischen Sprache, vor allem in den Tönen der Trauer, erweist er sich als ein Geschöpf der eigenwilligen Diktion Porrinos.

Dem Liebespaar fehlt dagegen diese Ausprägung eines manchmal fast oratorienhaften Singens. Hier hat der Komponist noch nicht die Selbständigkeit erreicht, die den andern Partien eigen ist. In der Gestalt des Perdu schließlich finden wir die Übertragung der sardischen Volksmusik in den Opernbereich in drei Canzonen. Porrino hat weder Volksmelodien aufgegriffen noch Themen im Volksstil erfunden, sondern er hat hier den Geist der sardischen Musikfolklore mit all ihren Eigenheiten – dem Gesang à grand vent, den Vokalisen mit der langsam fallenden Linie und der allegorischen Sprache – in die Welt der Kunstmusik übertragen. Das Orchester ist in Teilen auch unter dem Eindruck des pastoralen Milieus instrumentiert, doch umfaßt die Partitur einen größeren Apparat als Porrino für gewöhnlich verwendet.

Mit einem an Pfitzner (von dem Porrino nie ein Werk gehört hat!) gemahnenden Quintmotiv beginnen die Hörner die Ouvertüre, aus grauen Nebeln taucht langsam die Kontur der Insel auf und gibt gleich mit einer elegischen Oboenmelodie den Grundton für das Werk. Das Leid der Insel, die ständige Bedrängnis durch die Ströme der Einwanderer prägt das Vorspiel.

Im Mittelpunkt des ersten Aktes steht eine Initiationsszene: die beiden Söhne des Gonnario werden in einem symbolreichen Tanze in die Kriegerkaste aufgenommen. Wie in Nuraghi verstand es Porrino auch in I Shardana das Archaische und Primitive eindrucksvoll wiederzugeben. Außerordentlich vital und spannungsgeladen setzt der Tanz, begleitet von den Aufschreien des Chores, ein und steigert sich motorisch zu seinem Höhepunkt. Und auch hier hat Porrino eine Beobachtung verwendet, die er beim Studium der Volksbräuche seiner Heimat gemacht hatte. Bei den sardischen Festen tanzt man noch heute den Ballu tundu (Rundtanz), der ein kurzes Motiv rastlos wiederholt. Das Volk, das an diesen Tänzen durch mehrere Stunden fast ohne Unterbrechung teilnimmt, gerät in eine Erregung, die erst langsam abklingt; noch am Tage nach dem Fest kann man beobachten, dass – selbst in der Eisenbahn – auf dem Heimweg in das Heimatdorf noch mit Unterbrechungen getanzt wird, dass die Glieder zucken und die Menschen selbst bei der Arbeit tänzerische Bewegungen oder Gesten ausführen. In I Shardana wirkt ebenfalls die Spannung des Tanzes, der zur Initiationsszene erklingt, noch lange nach und im Ausklingen des ersten Aktes, der mit einer nächtlichen Stimmung leise verhaucht, tönen nochmals Fragmente des Tanzes wie ein fernes Echo nach.

Chor und Orchester vereinigen sich zu einer großen, gemeinsamen Szene in dem dritten Bild des dritten Aktes: Le voci dell’universo ist diese Szene überschrieben. Die Bühne liegt dunkel und leer und nur Chor und Orchester singen die Klage der trauernden Natur. Hier weitet sich der Raum aus den gewohnten Dimensionen zum unendlichen Kosmos und zur kleinen Hirtenwelt tritt hier als Gegensatz das große Universum.

Das letzte Lied des Perdu ist eine Hymne auf die geliebte Insel. Mit zarter Poesie werden Bilder aus dem Leben der pastoralen Sphäre gezeichnet und nach der Trauer hält der Friede Einzug bei dem geprüften Volke.

Und du, Land der Freude und des Schmerzens, / lebe ewig im Lobgesang des Sängers !

Das ist der letzte Gruß mit dem langsam und leise die Oper ausklingt, das Quintenmotiv des Anfangs als Ausklang verwendend.

Die Übertragung menschlicher Gefühle in reine Musik ist mit I Shardana in vollendeter Weise gelungen, wenn auch nicht in allen Details so doch im Gesamtbild. Zugleich wurde ein Operntypus und ein Opernstil kreiert, wie er für die italienische Opernbühne neu ist. Wie in seinem instrumentalen Schaffen hat Porrino auch in I Shardana eine Brücke zwischen Tradition und Fortschritt geschlagen und selbst Gegensätzliches zu vereinen verstanden.

Noch ein Wort zum äußeren Schicksal dieser Oper. Ein Jahr nach der Uraufführung wurde in Cagliari das Werk gegeben, im Mittelpunkt einer ergreifenden Feier für den Sohn der Insel. «Ennio ist nach Sardinien zurückgekehrt» schrieben die sardischen Zeitungen zu dieser verspäteten Begegnung mit dem größten Werk eines sardischen Komponisten. Ennio Porrino hat sein Werk «meinem sardischen Land» gewidmet und dies ist die wertvollste Gabe, die er seiner Insel machen konnte. Und ich bin sicher: Hätte München das Glück, von einer Oper wie dieser besungen zu werden, gäbe es bei den Opernfestivals meiner Stadt in jedem Jahr einen Ehrenplatz für sie.

Autor: Felix Karlinger

I Shardana bei YouTube

Dieses Video kombiniert Ausschnitte aus der Oper mit Fotos von der Uraufführung, mit Skizzen Porrinos sowie mit Fotos aus Sardinien.